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Nigeria: Weggeschwemmte Existenzen

Während auf dem UN-Gipfel in Doha über den Klimawandel diskutiert wird, leben die Bewohner/innen der nigerianischen Megacity Lagos bereits seit Jahren mit dessen unberechenbaren Auswirkungen. Landerosion und Sturmwellen schwemmen nach und nach den Lebensraum entlang der Küste weg. Die seit Jahren anhaltende Urbanisierung spitzt die Situation der Küstenbewohner/innen noch zu. Bestehende soziale Ungleichheiten werden durch Klimawandel und Verstädterung noch verstärkt: während sich die einkommenstärkeren Gruppen Soforthilfemassnahmen leisten können, um ihr Zuhause und Besitz zu sichern, harren alteingesessene Fischer/innen und Strandverkäufer/innen in ihren teils unbewohnbaren Hütten aus, um ihrer Arbeit weiterhin nachgehen zu können.

Überrollt

Wie an langen Feiertagswochenenden üblich, so sollte auch in diesem Jahr das Wochenende zum Ende des Ramadan viele Besucher an Lagos einzigen Stadtstrand locken, der den exklusiven Stadtteil Victoria Island vom Meer trennt. Picknick, Karrousellfahren, Pferdereiten, Boulspielen – Attraktionen für die Besucher/innen, die den Strand an solchen Tagen bevölkern und ein lukratives Geschäft für die vielen kleinen Betreiber/innen der Bars und die Strandverkäufer/innen. Die meisten von ihnen leben – teils schon seit Jahren – entlang des angrenzenden schmalen Sandstreifens, genannt Kuramo Beach. Ihre Wellblechhütten sind gleichzeitig Wohnstätte, Bar, Spielsalon oder Friseurgeschäft.

Doch am frühen Samstagmorgen des 18. August 2012 überrollte eine „Monsterwelle“ den schmalen Streifen mit den Wohnhütten und zerstörte die Existenzgrundlage Hunderter. Die Sturmwelle ereignete sich, während Hurrikan Isaac auf der anderen Seite des atlantischen Ozeans in Haiti und Amerika Zerstörungen anrichtete. Sechzehn Menschen, darunter Kinder, kamen ums Leben. Dass es nicht zu einer noch größeren Katastrophe kam, lag an den frühen Morgenstunden. Einige Stunden später und die Welle wäre auf einen mit Ausflüglern bevölkerten Kuramo Beach getroffen.

Schon am Nachmittag des Unglückstages kamen die Bulldozer von der Regierung, um die verbliebenen Hütten niederzuwalzen, einige der Bewohner/innen hatten gerade noch Zeit, ihr Hab und Gut zusammenzupacken. Seit dem ist der Zugang gesperrt, der Strandabschnitt wurde mit Steinen provisorisch abgesichert. Was aus den Bewohner/innen der Hütten wurde, weiß man nicht. Wer das Glück hatte, ist bei Verwandten oder Freund/innen untergekommen. Auf eine staatliche Unterstützung können sie nicht hoffen. Es liegt an ihnen ob, wie und wo sie sich eine neue Existenz aufbauen können.

Natur- und Staatsgewalt

Einige Kilometer weiter östlich der Kuroma Beach sieht es ähnlich aus: der Lebensraum der alten Fischergemeinde Okun Alfa wurde in den letzten Jahren durch Küstenerosion und Sturmwellen stark reduziert. Durch den klimabedingten Rückgang ihres Lebensraumes stehen die alteingesessenen Fischer vor großen Herausforderungen. Sie verlieren nicht nur ihre Existenzgrundlage, sondern wissen auch nicht wohin.

Doch nicht nur Natur und Klimawandel sind für die Existenz bedrohende Situation der Fischergemeinden verantwortlich. Auch die massive Bebauung und Verstädterung der bis vor ein paar Jahren fast unbewohnten Lekki Halbinsel bedrohen ihren Lebensraum. Dadurch wurde die Gemeinde nun auch permanent von der Landseite Überschwemmungen ausgesetzt. Eine ausländische Ölfirma z.B. baut in der Nähe des Dorfes eine private internationale Schule. Um diese vor Überschwemmung zu schützen, wird das Fundament künstlich erhöht. Sämtliche Regenabflüsse werden somit mit verstärkter Kraft direkt in das Dorf führt. Von dort fließt das Wasser nun nicht mehr ab. Inzwischen hat sich das dringend benötigte Grundwasser mit dem salzigen Meereswasser vermischt, die Fischer sind auf Trinkwasserlieferungen von den teuren privaten Tankwagen angewiesen. Das einzige Gesundheitszentrum des Dorfes wurde bei einer der Sturmwellen zerstört. Sporadisch lässt sich der Gouverneur oder der Parlamentspräsident blicken, um den Bewohnern Mitgefühl und Tatendrang zu demonstrieren – die politischen Versprechen blieben bisher jedoch bloße Lippenbekenntnisse.  

Eine andere politische Aufmerksamkeit erhalten dagegen die etwas betuchteren Bewohner/innen Lagos, die nicht aus Platzgründen, sondern für Erholungszwecke Häuser mit Meerblick haben. So wurde zum Beispiel 2003 die Mittelklassensiedlung Goshen Beach Estate mit ca. 80 Doppelhaushälften direkt am Strand eröffnet. Die Bewohner/innen hatten jedoch nicht lange Freude an ihren Appartements. Immer wieder drang das Meer bis an die Häuserreihen vor und nagte am Fundament. Bis Anfang 2012 war der Strand vollkommen weggespült und einige der Häuser drohten einzustürzen. Doch dank des guten Drahtes zum zuständigen Minister, begann man schon bald mit Absicherungsmaßnahmen der Häuser. Diese werden die Häuser zwar nicht langfristig retten können, den Bewohner´/innen jedoch die Zeit geben, sich nach einer neuen Bleibe umzusehen. Zeit, die die Bewohner/innen der Wellblechhütten nicht haben.

Um jeden Preis?

Expert/innen warnen schon lange vor der rasanten Verstädterung und dem Bau von Häusern an der Küste. Sie fordern, dass die Stadtplanung der Regierung langfristige klimatische Veränderungen mit einbezieht und plädieren dafür, Lagos mit Hilfe natürlicher Schutzmaßnahmen wie Magroven oder Feuchtgebiete unterstützt durch technische Hilfsmittel, vor weiteren Überschwemmungen zu schützen. Bisher stoßen die Warnrufe jedoch auf taube Ohren. Viel lieber hält die nigerianische Regierung an ihrer Vision von Lagos als das zukünftige „Manhattens Nigerias“ fest. Mit dem Prestigeprojekt „Eko Atlantic City“, das entlang des Küstenabschnitts Victoria Island entsteht, will man diesem Ziel ein ganzes Stück näher kommen. Eko Atlantic City, so die Initiatoren, würde nicht nur luxuriöse Wohn- und Geschäftsräume schaffen, sondern die Stadt auch vor Überschwemmungen schützen. Umweltexperten sehen dies jedoch als eine gefährliche Fehleinschätzung.

Doch solange kein politischer Wille gezeigt wird auf den dringenden Rat der Expert/innen zu hören und die Verstädterung und geplanten Baumaßnahmen auf der Halbinsel zu stoppen, gräbt die Regierung immer weiter an ihrem eigenen Grab und läuft die ernst zu nehmende Gefahr, dass ihre millionenschweren Prestigeprojekte durch die drohenden Auswirkungen des Klimawandels schon in den nächsten Jahrzehnten im Wasser versenkt werden.